Leseprobe aus Teil 4: "Die Zeit der Asche"
»Es ist offen.«
Rhennon sog die Luft ein und hielt den Atem an. Vorsichtig legte er die Hand auf den Türgriff. Das Messing fühlte sich kalt unter seinen Fingern an.
Da war er nun, der große Augenblick. Es gab kein Entkommen mehr. Wie viele angehende Gelehrte hatten schon hier gestanden, innegehalten und sich auf das folgende Gespräch vorbereitet?
Der junge Assistent des Professors, der hinter einem Schreibtisch im Vorzimmer saß und eintreffende Besucherinnen und Besucher willkommen hieß, sah von seiner Lektüre auf und musterte Rhennon abschätzig.
»Armer Wicht«, murmelte er und schnalzte mit der Zunge. Die Seiten des dicken Schmökers, über dem er brütete, raschelten leise, während er das nächste Kapitel aufschlug.
Rhennon schluckte seinen Ärger herunter, packte den Türgriff fester und drehte ihn langsam nach links. Die massive Holztür öffnete sich mit einem leisen Quietschen.
Es geht los.
Professor Martons Büro roch nach Staub und altem Papier. Alles in allem kein unangenehmer Geruch, wie Rhennon zugeben musste, erinnerte er ihn doch an einige seiner glücklichsten Kindheitserinnerungen. Als kleiner Junge hatte er es geliebt, die Bibliothek seines Vaters nach alten Geheimnissen zu durchforschen. Wahrscheinlich empfand er deshalb auch eine zarte Zuneigung zu dem Mann, dem dieses Büro gehörte. Professor Marton war ein älterer und leicht untersetzter Herr mit weißer Haut und ergrautem Haar, das trotz aller Bemühungen sich nie ganz zu einer Frisur formen wollte. Während der Vorlesungen trug er wie alle Gelehrten einen Talar, der seinem Amt und seiner Stellung entsprach. An diesem Tag hatte er sich allerdings für eine Kombination aus Kniebundhosen, Stiefeln und einem steifgebügelten Hemd mit Volants an den Aufschlägen entschieden. Sein Gehrock aus erdfarbenem Tweet hing über einem Ständer in der Ecke.
»Ah, Rhennon«, rief der alte Professor und klappte den Folianten zu, in dem er gelesen hatte. Er rückte die zarte Brille auf seiner Nase zurecht. »Kommen Sie rein.«
»Guten Morgen, Professor«, sagte Rhennon und bemühte sich, seine Nervosität mit einem gewinnenden Lächeln zu verdecken.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Marton und deutete auf den Holzstuhl, der vor einem massigen Schreibtisch stand. Er selbst nahm auf dem dunklen Ledersessel dahinter Platz.
Rhennon setzte sich und nahm sich einen Augenblick Zeit, das Zimmer näher in Augenschein zu nehmen. Abgesehen von den schwarzen Vorhängen, die zugezogen worden waren, um das grelle Sonnenlicht draußen zu halten, wurde der Raum zu allen Seiten von riesigen Regalwänden dominiert. Darin befand sich eine – selbst nach den Maßstäben eines renommierten Historikers – ungewöhnlich große Sammlung alter Bücher, Pergamente und Folianten. Auf Anhieb entdeckte Rhennon Erstausgaben von einem Dutzend berühmter Gelehrter, die mit ihren Forschungen das Verständnis der Welt bis zu diesem Tag prägten. Ergänzt wurden sie von kleineren Ausstellungsstücken wie dem Schädel eines Phönix, der durch eine gläserne Glocke vor Staub und Schmutz geschützt wurde. Der Vogel galt wie so viele andere Arten als ausgestorben.
»Vielen Dank, dass Sie so früh vorbeigekommen sind«, sagte der Professor und entzündete eine Öllampe, die als Leselicht auf seinem Schreibtisch stand.
»Es ist mir ein Vergnügen, Professor.«
»Nun ja«, sagte Marton und zog ein besticktes Tuch aus der Brusttasche seines Gehrocks, um daran zu riechen. »Das wird sich zeigen.«
Rhennon rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. Es war besser, wenn er die Angelegenheit schnell hinter sich brachte. »Sicher wollten Sie mit mir über meinen Antrag sprechen.«
Marton lehnte sich zurück und legte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. Das Sesselpolster quietschte unter seinem Gewicht. »Ach ja. Richtig.«
»Und was halten Sie davon?«
»Nun, ich muss gestehen, dass ich einigermaßen verblüfft war.«
Rhennon befeuchtete seine Lippen und bemühte sich um eine gelassene Miene. »Habe ich einen Fehler bei der Einreichung gemacht?«
»Oh, nein, das nicht. Es ist eher der Inhalt des Antrags, der mich irritiert.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Rhennon.
Marton verschränkte die Finger ineinander und seufzte. »Sie fragen nach einer Förderung der Universität für eine Expedition, um im Feld Beweise für Ihre Theorie über die Entstehung der Menschen und ihren Aufstieg an die Spitze der Evolution zu finden.«
»Ja.«
»Auf Delphos?«
»Das ist richtig.«
Marton seufzte. »Mir ist nicht entgangen, dass Sie ein Faible für die Frühgeschichte entwickelt haben«, sagte er mit einigem Bedauern in der Stimme. »Auch wenn ich diese ferne Epoche als Sujet wenig beachtenswert finde, kann ich Ihr Interesse bis zu einem gewissen Grad verstehen. Viele junge Menschen interessieren sich für die ferne Vergangenheit, und ich gebe zu, es ist faszinierend, die Ursprünge unserer Art zu untersuchen und sie bis in die heutige Zeit zu verfolgen. Doch gilt diese Epoche als weitestgehend erforscht. Soubrey Sandrin hat dieses Kapitel mit der Veröffentlichung ihrer Prinzipien bereits vor Jahrhunderten abgeschlossen. Was also glauben Sie auf den Zeitlosen Inseln finden zu können, das nicht schon ausreichend erforscht wäre?«
Rhennon straffte die Schultern. So viel hing davon ab, dass er Marton davon überzeugte, ihm die Mittel für seine Expedition zur Verfügung zu stellen. Vielleicht sogar seine gesamte Karriere. Natürlich, er hätte seinen Vater bitten können, die Reise zu finanzieren, aber das wäre nicht dasselbe. In den Augen der Historischen Fakultät wäre er dann nur ein weiterer Glücksritter, ein akademischer Narr. Und er hatte nicht vor, sich vor ihnen lächerlich zu machen.
»Delphos ist seit Jahrhunderten von der Außenwelt abgeschnitten«, erklärte Rhennon. »Nach allem, was ich bei meiner bisherigen Recherche herausgefunden habe, könnten dort unzählige Erkenntnisse auf uns warten, die uns etwas Neues über den Ursprung der Menschheit verraten. Wir könnten Beweise für einige der ältesten Erzählungen unseres Geschlechts finden und damit ihre Entstehung rekonstruieren. Schließlich sprechen wir hier von den Zeitlosen Inseln. Warum sollten wir sie so nennen, wenn dort nicht die Zeit selbst stehen geblieben ist?«
»Möglicherweise«, sagte Marton verkniffen. »Es ist nur so, mein Junge, Sie widersprechen mit Ihren Ansichten klar den Sandrinischen Prinzipien in Bezug auf die Entstehung der Arten.«
»Diese Forschungen gelten als alles andere als gesichert.« Rhennon bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln.
»Wenn wir ehrlich sind, sind sie kaum mehr als eine Vermutung. Eine Vermutung, die besagt, dass die Menschen eine Phase der Mutation durchmachten, die ihren natürlichen Intellekt gestärkt hat und sie das wahre Wesen aller Dinge erkennen ließ. Etwas sehr … praktisch, diese Erklärung, finden Sie nicht?«
Martons Nasenflügel bebten. »Wenn Sie Sandrins Forschungen für kaum mehr als Vermutungen halten, muss ich mich fragen, warum Sie es für eine gute Idee hielten, für Ihre Beweisführung Werke heranzuziehen, deren Inhalt man bestenfalls als mythologisch bezeichnen kann.«
»Haben nicht alle Mythen einen historischen Ursprung? Denken Sie nur an Bar Sharan, die Nacht, als die Sterne vom Himmel fielen. Auch dies wurde einst als Schöpfungsmythos abgetan. Heute wissen wir, dass es einen sehr realen Meteoritenschauer gegeben hat, der über dem Aschwallgebirge niederging. Warum also sollten sich nicht auch einige der alten Erzählungen über die Ursprünge der Menschheit als wahr herausstellen?«
»Sie sprechen davon, dass die Menschen auf unnatürliche Weise in diese Welt gekommen sind«, rief Marton und hob die Hände in einer Geste der Verzweiflung. »Dass sie sich nicht durch die Evolution entwickelt haben, sondern wie durch ein Wunder hierher versetzt wurden und anschließend aus einem kollektiven Traum erwachten. Diesen Mumpitz glauben Sie doch nicht wirklich?«
»Es würde so vieles erklären«, beharrte Rhennon. »Die Menschen sind sehr plötzlich auf der Weltbühne erschienen und haben sich in Windeseile in ganz Mesembra ausgebreitet. Für einen solchen Siegeszug bedarf es vieler Fertigkeiten, die sich bei anderen Arten nur sehr langsam entwickelten. Zudem gibt es aus der Zeit vor diesem Erwachen keinerlei Zeugnisse, obwohl wir wissen, dass die Zharen ihre Geschichte bereits seit über sechstausend Jahren in Form von mündlichen Überlieferungen weitergeben. Aber auch sie kennen keine Geschichten über primitive Menschen, die unserer Zivilisation vorangegangen sind.«
»Das liegt daran, dass sich die Menschen nicht wie gewöhnliche Tiere entwickelt haben, sondern von den Kräften der Natur in ihrer Vollkommenheit erweckt wurden.«
Das ominöse Erwachen. Die kleine Zauberkarte, die Gelehrte seit Jahrtausenden nutzten, um die Überlegenheit der menschlichen Spezies zu erklären. Rhennon kniff die Lippen zusammen.
»Bei allem Respekt, Professor, es gibt keine Hinweise darauf, wie die Natur allein die rasante Entwicklung der Menschen möglich gemacht haben will. Es muss noch etwas anderes gegeben haben, eine Art begleitendes Ereignis.«
»Die Lehre vom Erwachen ist einer der Grundpfeiler, auf dem unsere Gesellschaft beruht«, erklärte Marton in einem Ton, als hielte er Rhennon für ein sehr dummes Kind, das sich einer gerechtfertigten Rüge entzog. »Sehen Sie sich doch nur an, was mit dem Kaiserreich geschehen ist, sobald sich die Menschen von diesem Ideal abgewandt hatten. Götterglaube, Polygamie, Demokratie. Die Leute kamen auf die verrücktesten Ideen. Heute herrschen im Süden nur noch Unsitten und der allgemeine Verfall der Moral. Nur hier halten wir die alte Ordnung der Sicherheit und Stabilität aufrecht.«
Rhennon hielt den Atem an. Er wusste, dass Marton die Grafschaften meinte, jenen den Norden umfassenden Verbund von Ländern, die von den letzten kaisertreuen Adelshäusern von Mesembra beherrscht wurden.
»Aber Sie sind Historiker«, beharrte er. »Sie haben sich der Forschung nach der Wahrheit verpflichtet.«
»Die Wahrheit?« Die Stimme des Professors klang spöttisch. »Glauben Sie wirklich, dass Sie in Ihrer Arbeit die Wahrheit aufgedeckt haben? Es tut mir leid, mein Junge, ich bin nicht überzeugt. Aber ich rechne Ihnen hoch an, dass Sie die Verve besitzen, Ihre Ansichten mit so viel Hingabe zu verteidigen. Ohne Zweifel haben Sie hart daran gearbeitet, auch wenn ich das Ergebnis für ausgemachten Unsinn halte.«
»Lassen Sie mich erklären!«
Der Professor hob die Hand. »Glauben Sie mir, wenn Sie es als Akademiker zu etwas bringen wollen, sollten Sie diesen Quatsch vergessen. Konzentrieren Sie sich auf gesicherte Fakten und nicht auf Fantastereien.«
Rhennon schluckte schwer. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass es schwer werden würde, einen renommierten und überaus konservativen Historiker wie Professor Marton von einem neuen Weltbild zu überzeugen. Trotzdem wollte er sich nicht so leicht geschlagen geben.
»Das ist nicht das, was Sie hören wollten«, stellte Marton fest und lehnte sich vor. »Aber es ist meine Pflicht als Ihr Mentor, Sie über Ihre Irrtümer aufzuklären. Das ist nicht einfach, glauben Sie mir. Umso schwerer fällt es mir, mit Ihnen über den eigentlichen Grund zu sprechen, aus dem ich Sie sehen wollte.«
Das ließ Rhennon aufhorchen. Seine Finger krallten sich in den Saum seines Gehrocks. Wieso nur hatte er das Gefühl, dass sich ein gewaltiger unsichtbarer Hammer auf ihn zubewegte?
Stille senkte sich wie ein schweres Tuch über den Raum herab. Marton atmete tief ein, sammelte sich. Ein Ausdruck des Bedauerns und Mitgefühls huschte über sein Gesicht. Die Veränderung ließ Rhennons Blut in den Adern gefrieren.
»Wie Sie wissen, sind Ihr Vater und ich alte Freunde«, erklärte der Professor und starrte ins Licht der Öllampe. »Als Sie hier ankamen, bat er mich, über Sie zu wachen und Sie in allen Belangen zu fördern, so wie Ihre Mutter es sich gewünscht hätte.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es ist ein Jammer, dass das Serengi-Fieber sie so früh dahingerafft hat, wirklich.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Professor?«, fragte Rhennon und versuchte nicht an all das Silber zu denken, mit dem sein Vater sich Martons Gunst gesichert hatte.
Der Professor seufzte und öffnete eine Schublade seines Schreibtischs, holte eine schmale Papierrolle hervor und legte sie vor Rhennon auf den Tisch. Das Siegel war gebrochen.
»Diese Nachricht traf heute Morgen mit einem Kurier ein.«
Die Chronik der Herzlosen
Sammelband
Eine Gefangene, die auf Rache sinnt.
Ein Dichter auf der Suche nach Ruhm und Reichtum.
Ein Arbeiter, der die Stimme der Geister hört.
Ein Sohn von altem Adel, der vom Tod verfolgt wird.
Eine Kriegerin mit einer besonderen Aufgabe.
Gemeinsam sind sie die Herzlosen und wo sie auftauchen, verbreiten sich Tod und Zerstörung, denn der dunkle Gott Sarduk ist ihr Meister. Ihm allein verdanken sie die magischen Fähigkeiten, mit denen sie ihre Feinde in die Knie zwingen. Doch um sich seine Gunst zu sichern, mussten sie alle zuerst ein schreckliches Opfer erbringen.
»Die Chronik der Herzlosen« umfasst erstmals alle Kurzromane sowie Kurzgeschichten der Reihe in einem Band.